Der Bestseller-Philosoph Richard David Precht entwirft in seinem neuen Werk „Jäger, Hirten, Kritiker“ eine „Utopie für die digitale Gesellschaft“. Seine Vision: Superschlaue Maschinen befreien den Menschen von der Lohnarbeit. Sein Plädoyer überzeugt – auch wenn seine Kompetenz in Sachen Digitalisierung manchmal schwächelt.
Eigentlich hatte ich geplant, einen Verriss zu schreiben. Normalerweise passiert selten Gutes, wenn alternde Intellektuelle in Deutschland sich anschicken, die Digitalisierung zu erklären. Ob Hirnforscher Manfred Spitzer („Das Internet ist tödlicher als Rauchen!“), der Essayist Hans-Magnus Enzensberger („Werft eure Smartphones weg!“) oder der Soziologe Harald Welzer („Google ist schlimmer als die Gestapo!“): In all dem neumodischen Technik-Hokuspokus wittern unsere alten Dichter und Denker nur Gefahr und Bedrängnis.
Nicht so Richard Precht. Er glaubt, dass dank künstlicher Intelligenz unserer Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Schlaue Computerprogramme und kluge Roboter, so sein Szenario, nehmen den meisten von uns bald die Arbeitsplätze weg. Anstatt aber Angst vor Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise zu verbreiten, wirbt Precht für ein positives Szenario: War es nicht einmal ein Menschheitstraum, sich von der Mühe der Arbeit lossagen zu können? Könnte dank künstlicher Intelligenz nun nicht endlich wahr werden, was schon Karl Marx als Utopie formulierte: dass wir morgens auf die Jagd gehen, abends Schafe züchten und des Nachts philosophieren könnten, ohne aber einen Beruf als Jäger, Hirten oder Kritiker ergreifen zu müssen?
Vision einer neuen Tätigkeitsgesellschaft
Das alte Bild der menschlichen Lohnarbeit als prägendes Merkmal individueller Selbstentfaltung und als Garant des Sozialstaats bismarckscher Konzeption hat in einer solchen neuen Welt ausgedient. Obgleich nicht alle von heute auf morgen ihren Job an die Computer abtreten müssten, so würde schon ein Wegfall von nur jedem vierten oder fünften Job unser Sozialsystem vor die Zerreißprobe stellen.
Auf eine solche Analyse folgt fast zwangsläufig die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens, für das auch Precht ein flammendes Plädoyer liefert. Dabei ikonisiert er ein solches staatliches Mindesteinkommen weder zu einer Universallösung aller Probleme, noch wirkt er naiv, was die Umsetzung angeht. Ohne freilich sein Konzept mit ökonometrischen Modellen durchzurechnen, entwirft er einen eigenen Finanzierungsvorschlag, der auch für Skeptiker durchaus an Überzeugungskraft innehat, und argumentiert mit derselben prechtschen Verve auch gegen neoliberale Varianten des Grundeinkommens, die den Sozialstaat schleifen wollen und die Digitalisierung als willkommene Legitimationsfassade missbrauchen.
Intellektuell würzig
In der Tat ist allerdings gar nicht sicher, ob die digitale Revolution wirklich das „Ende der Arbeit“ (Jeremy Rifkin) einläuten wird. Precht zitiert die pressebekannten Studien, die eine Automatisierung von bis zur Hälfte aller Jobs für möglich halten – eine durchaus plausible Zahl angesichts der jüngsten bahnbrechenden Erfolge im maschinellen Lernen und bei künstlicher Intelligenz. Doch der Mensch war bisher immer unschlagbar in seiner Kreativität, neue Bedürfnisse und neue Berufe zu erfinden. Und daher wundert es auch nicht, wenn andere Studien – etwa des IW Köln, von Capgemini oder BCG – eher eine insgesamt höhere Nachfrage nach Arbeitskräften vermuten.
Selbst aber, wenn man seinem Axiom vom Ende der Arbeit nicht folgen mag: es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum und wofür wir eigentlich Lohnarbeit wollen oder brauchen, und was passieren müsste, wenn das Szenario vom Ende der Arbeit vielleicht doch eintritt. Man merkt: Hier schreibt jemand, der unser heute vorherrschendes Bild der Arbeitsgesellschaft ideengeschichtlich durchdrungen hat und mit persönlicher Überzeugung (und der typisch prechtschen Eloquenz) für eine Vision einer besseren Gesellschaft streitet.
Obendrein kann sich der Leser an perfekt sitzenden Seitenhieben gegen die AfD erfreuen, nebst allerlei sanften Sticheleien gegen manche Politiker oder Manager, die Prechts neues Werk zu seinem vermutlich politischsten machen und auf eine sehr wohltuende Art würzen. Das macht das Buch lesenswert, selbst wenn man seiner Argumentation nicht an allen Stellen folgen muss.
Kulturpessimismus zwischen den Zeilen
Und doch hat das Buch leider einige Schwächen. So leuchtet immer wieder ein latenter Kulturpessimismus durch, den Precht doch eigentlich vermeiden wollte – geht es ihm doch ausdrücklich um eine positive Vision.
Ein Beispiel von vielen: Unsere Kinder seien so smartphone-süchtig, dass sie später „nicht viel zu erzählen haben über das, was sie als Kind so gemacht haben“, weil sie statt auf Bäumen nur noch in Apps abhängen. Dabei spielen Kinder auch heute immer noch am liebsten draußen mit ihren Freunden – alle interaktiven Medien kommen erst weit danach.
Von Fakten ungetrübt ist auch seine technikpessimistische Frotzelei, „ob das mit Krankenakten gefütterte Computersystem ‚Watson‘ von IBM in jedem Fall eine bessere Diagnose stellt als ein Arzt, … steht nicht fest“. Doch, das steht fest: Bereits heute schlägt Watson den menschlichen Arzt bei Diagnose und Therapieempfehlungen von Krebs und diversen anderen Krankheiten.
Unwissenheit und Alarmismus beim Datenschutz
Das eigentliche Defizit des Buches liegt aber beim Themenkomplex Datenschutz und Privatsphäre, wo Precht einige Wissenslücken offenbart. So suggeriert er mehrfach, Facebook, Apple oder Google würden die Daten ihrer Nutzer „hinterrücks verkaufen“ – das stimmt nicht und wäre für die genannten Unternehmen sogar unmittelbar geschäftsschädigend. Diese Unternehmen verkaufen Online-Werbeplätze, keine Nutzerdaten. Auch beim jüngsten Skandal um Cambridge Analytica ging es nicht darum, dass Facebook irgendwelche Nutzerdaten verkauft hätte, sondern um den Missbrauch offener Schnittstellen durch einen App-Entwickler.
An anderer Stelle bezeichnet Precht die anstehende E-Privacy-Verordnung als „Teil der EU-DSGVO“ (also der EU-Datenschutzgrundverordnung), was ebenso falsch ist – eine Kleinigkeit vielleicht, aber ein Fehler, der mit etwas mehr Fachkunde nicht passiert wäre.
Später macht Precht einige scheinbar utopische Vorschläge für eine „humane Zukunft“, wie z.B., dass „die Nutzung personenbezogener Daten nur in konkreten Anwendungsfällen und mit fallbezogener Zustimmung erlaubt“ sein solle. Genau das aber ist seit der von ihm selbst genannten EU-DSGVO bereits anwendbares Recht und alles andere als utopisch. Hier wirkt Precht nicht aufklärerisch, sondern vernebelt die Diskussion.
Privatheit nur für Menschen mit Geld?
Weiterhin sympathisiert Precht mit einigen zweifelhaften Ideen, wie etwa, „für eine Suchmaschine oder ein soziales Netzwerk ein paar Euro im Monat zu zahlen“ und dafür auf die Werbefinanzierung dieser Angebote zu verzichten. Was er dabei nicht thematisiert: Bei einem solchen Bezahl-Modell würde Privatheit zu einer Sache von Menschen mit Geld, und die anderen lässt die Politik einfach im Stich. Sollte Datenschutz nicht für alle gelten, unabhängig vom Geldbeutel?
Zudem suggeriert Precht, Europa würde es versäumen, „die Geschäftspraktiken der großen Monopolisten in die Schranken“ zu weisen (bei den etlichen Gesetzgebungsvorhaben und Gerichtsstreitigkeiten in Berlin und Brüssel gegen die großen US-Internetkonzerne mag man ein anderes Bild erhalten). Schuld an der „Blockade“ seien nicht zuletzt „die Verbände der deutschen Wirtschaft“. Da sitzt Precht einem Irrtum auf. Der Geschäftsführer des Branchenverbands Bitkom sagte vor kurzem öffentlich: „Ich bin kein Vertreter von Facebook und Facebook ist auch kein wichtiges Mitglied im Bitkom. Und ich muss hinzufügen: Es gibt Mitgliedsunternehmen, ohne die das Leben einfacher wäre im Vorstand“. Sieht so eine Blockade aus?
Feuerndes Plädoyer für anderes Denken
Dennoch: Eine Handvoll unglückliche Bemerkungen zum Datenschutz und eine nach prechtschen Maßstäben ungewohnte sporadische Schluderei tun der intellektuellen Freude bei der Lektüre keinen Abbruch. Wieder einmal ist Richard Precht ein flüssig lesbares, feuerndes Plädoyer für ein anderes Denken gelungen. Und man kann froh sein, dass Deutschland sich zumindest noch auf einen Intellektuellen verlassen kann, dessen analytische Gabe nicht bei der Einführung des Modems sein Ende fand.
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