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  • AutorenbildWolfgang Gründinger

In der Krise über nach der Krise nachdenken

Aktualisiert: 14. Dez. 2020



Letzte Woche lud mich ein Freund, Partner bei einer der großen Unternehmensberatungen, zum Abendessen ein. Es war das erste Mal überhaupt, dass wir uns privat bei ihm zu Hause sahen. „Die ersten beiden Wochen des Shutdowns fiel ich in ein tiefes Loch“, erzählte er. Früher warf er spätabends seine Klamotten aufs Sofa, stand morgens um vier Uhr auf, nahm das Taxi nach Tegel. Er lebte im Flugzeug und in Hotels, war kaum zu Hause. Nach sechs Jahren habe er endlich seine Wohnung aufgeräumt, berichtete er. Zum ersten Mal fühle er sich zu Hause wohl. Heute habe er sich sogar fast einen Sonnenbrand geholt, weil er beim Telefonieren in der Nachmittagssonne spazieren ging. „Ich möchte kein Zurück mehr in die alte Normalität.“


Vielen geht es ähnlich, auch mir. Wer das Glück hatte, nicht über Nacht seine Arbeit zu verlieren, der lernte die erzwungene Entschleunigung oft als Chance zur Selbstreflexion kennen. Ich habe mir eine neue Morgenroutine zurechtgelegt, gehe täglich zehn Kilometer im Tiergarten laufen, rufe ohne jeden Anlass meine Freunde an und habe das erste Mal in meinem Leben Spargel gekocht. Ich schlafe so gut wie schon lange nicht mehr.


Die Krise als Chance begreifen – der Satz ist abgedroschen, aber dennoch wahr. Aber viele entdecken erst jetzt, da sie weniger „busy“ sind, was wirklich zählt. Wer immer unterwegs ist, wer nie zweckbefreiten Leerlauf hat, der verpasst das, was am Ende das Leben ausmacht.

Wie soll das Jahr 2021 aussehen? Wollen wir das Land luftdicht verpacken, einfrieren und in ein paar Monaten wieder auftauen, wenn der ganze Spuk vorbei ist? Alte Industrien retten, wie wir das immer tun, während wir die neuen untergehen lassen?


Ich möchte nicht zurück zum Status quo ante des Hamsterrads, das von innen aussah wie eine Karriereleiter, das sich aber schneller drehte, als man klettern konnte. Ich will eine neue Normalität mit mehr Müßiggang und – Achtung Buzzword! – mehr Achtsamkeit. Meine Hoffnung für die Zukunft, bruchstückhaft und mit Mut zur Lücke, sieht ungefähr so aus:

  • mehr Bewusstsein dafür, was im Leben zählt – Freizeit, Familie, Freunde, Gemeinschaft;

  • mehr Wertschätzung – auch finanziell – für die tatsächlich systemrelevanten Berufe, wie Pflege, Einzelhandel, Lagerarbeit, Paketdienste, Müllabfuhr;

  • das Verständnis, warum ein starker Staat mit einer funktionierenden Bürokratie und einer funktionierendem, solidarischen Gesundheitsversorgung essenziell ist und uns den Arsch retten kann;

  • die Erkenntnis, dass mobiles Arbeiten nicht faul macht, sondern mindestens genauso produktiv ist wie die ohnehin längst veraltete Präsenzkultur – und dass diejenigen profitieren, die rechtzeitig digitalisieren;

  • die Erfahrung, dass autofreie Innenstädte etwas ganz Wunderbares sind, das wir uns nach der Krise beibehalten sollten.

Als in den 1980ern die Autowerke in Flint, Michigan, ihre Tore für immer schlossen und Zehntausende Menschen ohne Arbeit, ohne Perspektive dastanden, konfrontierte sie der österreichisch-amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann mit der Frage: „What do you really, really want?“ Die Arbeiter brachen in Tränen aus. Noch nie hatte sich jemals irgendwer dafür interessiert, was sie wirklich, wirklich wollen. Für sie fühlte sich der Job an wie eine „milde Krankheit“: nicht so schlimm wie Krebs, eher wie eine Erkältung. Bis Freitag hält man das schon aus. Notfalls bis zur Rente.


Die momentane Lage der Nation zwingt auch uns zu neuen Antworten. Als Einzelne ebenso wie als gesellschaftliches Kollektiv stehen wir vor der Wahl: Fangen wir uns, nachdem einige merkwürdige Wochen vorübergezogen sind, wieder die altvertraute Erkältung ein, die wir bis 67 nicht los werden? Oder bauen wir unser Leben und unser Land um, stärken unser individuelles und gesellschaftliches Immunsystem gegen neue Krisen, und tun mehr von dem, was wir wirklich, wirklich wollen?



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