Wolfgang Gründinger
Das Gefangenen-Dilemma, oder: Was die UN-Klimakonferenz mit den Osterinseln zu tun hat
Aktualisiert: 3. Nov. 2021

Ohne Bart und ohne Falten - das war ich noch 2008 auf der damals 14. UN-Klimakonferenz in Poznán. Die Emissionen sind unbeeindruckt weiter gestiegen. Am Sonntag begann in Glasgow der inzwischen 26. UN-Klimagipfel. Wieder scheint eher wenig zu passieren. Warum ist das so? Ein Blick aus der Politikwissenschaft, und was das Ganze mit den Osterinseln zu tun hat.
Bei bestem schottischem Wetter treffen sich derzeit in Glasgow die Vereinten Nationen zum Klimagipfel. Es ist die 26. UN-Klimakonferenz, daher auch das Kürzel: COP26: „Conference of the Parties“, Nummer 26.
Als die Vereinten Nationen beim historischen Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro den ersten Klimavertrag verabschiedeten, war die Stimmung euphorisch: Ab sofort geht es bergauf! Doch seitdem stiegen die globalen Emissionen unbeeindruckt immer weiter: von damals weniger als 30 Milliarden Tonnen auf jetzt um die 50 Milliarden Tonnen. Viel getagt, nichts passiert?
Am guten Willen mangelt es nicht. Daher sind auch Begriffe wie „Verrat“ oder „Lügen“ eher mit Vorsicht zu genießen. Wer will schon das Klima absichtlich zerstören?
Was wir von den Osterinseln lernen können
Um das Problem der UN-Klimadiplomatie zu verstehen, hilft ein Blick auf eine untergegangene Kultur.
Vielleicht hast du schon einmal die Osterinseln besucht, jene abgelegene Insel im Pazifischen Ozean. Oder du kennst Fotos aus dem Netz von den mysteriösen steinernen Statuen, die es dort zu bestaunen gibt. Viele hundert dieser rätselhaften Skulpturen, der „moai“, wie man sie nennt, stehen auf der kleinen Pazifikinsel weit westlich von Chile.
Um diese Statuen zu bauen, hätte man Bäume gebraucht, zum Beispiel für Transportschlitten und als Hebel. Als aber die ersten Europäer dort ankamen, war die Insel völlig karg, die wenigen Eingeborenen fristeten ein kümmerliches Dasein. Was war geschehen?
Ursprünglich war die Insel bewaldet. Doch dann begannen die rivalisierenden Stämme, sich gegenseitig mit immer mehr Statuen übertrumpfen zu wollen, und mussten für die Fertigung der Statuen immer mehr Bäume roden. Es schien nicht der Rede wert, denn an Wald herrschte vermeintlich kein Mangel. Je weniger Wald es gab, umso wertvoller wurden die Statuen als Statussymbol. Als die Wälder weniger Nahrung hergaben, wurden die Eingeborenen zu Fleischessern. Erst rotteten sie die Delfine aus, dann die Landvögel, dann die Seevögel, schließlich wurden sie zu Kannibalen. Am Ende war die Bevölkerung zu 90 Prozent durch Hungertod und Stammeskriege dezimiert. Als sie die religiösen Statuen umstürzten, war es zu spät.
Der US-Evolutionsbiologe Jared Diamond von der University of California, Los Angeles, erzählt die Geschichte der Osterinsulaner in seinem Buch Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Und er fragt: „Was mag derjenige gedacht haben, der auf der Osterinsel den letzten Baum gefällt und damit den unaufhaltsamen Untergang einer 700 Jahre lang erfolgreichen Kultur besiegelt hat? ... Wahrscheinlich, dass Bäume schon immer gefällt wurden und dass es völlig normal sei, wenn auch der letzte fällt. ... Wenn es nur einiger tausend Menschen mit Steinwerkzeugen ... bedurfte, um ihre Umwelt und damit auch ihre Gesellschaft zu zerstören, wie können dann mehrere Milliarden Menschen mit ... Maschinen vermeiden, noch Schlimmeres anzurichten?“

Öffentliche Güter und die Logik kollektiven Handelns
Die Wälder auf der Osterinsel waren ein „öffentliches Gut“. Das bedeutet: Alle profitieren zwar von einer intakten Umwelt, auch wenn sich nur wenige für deren Schutz einsetzen. Weil jeder öffentliche Güter – wie eben zum Beispiel den Wald der Osterinsel, die Fischgründe, oder die Atmosphäre – einfach so nutzen kann, handeln Trittbrettfahrer individuell rational.
Der amerikanische Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson, University of Maryland, nannte dieses Dilemma die „Logik kollektiven Handelns“. Er wies nach: Der Schutz öffentlicher Güter ist paradoxerweise umso schwerer, je mehr Menschen betroffen sind, weil diese individuell kaum merken, ob jemand zum Erhalt des Gutes beiträgt oder nicht. Ausgerechnet gesamtgesellschaftliche Interessen können sich oft am wenigsten gut organisieren und durchsetzen, gerade weil sie das Gemeinwohl verfolgen: Wenn sehr viele (oder gar alle) Menschen betroffen sind, sie aber individuell kaum bemerken, ob jemand zur gemeinsamen Sache beiträgt oder nicht, dann ist ihr einzelnes Interesse so diffus, dass es praktisch verschwindet.
Nach der kollektiven Logik wäre es für die Osterinsulaner besser gewesen, die Bäume nicht zu fällen, sich keine Statussymbole zu bauen, und dafür zu überleben. Aber nach der individuellen Logik wollte man eben Statussymbole besitzen, weil die anderen ja auch welche hatten, und warum sollte man sich auf Verbote und Verzicht einlassen?
Weil es keine Regeln für das kollektive Handeln gab, führte die individuelle Logik zum Untergang einer Kultur.
Am Ende handelt jeder nach seinem eigenen Interesse, weil er nicht der einzige Dumme sein will. Am Ende führt die Summe individueller Nutzenmaximierung zur Übernutzung von Gemeingütern und schließlich zur Katastrophe.
Die „Tragik der Allmende“ nannte das er amerikanische Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin von der University of California, Santa Barbara. Eine Allmende ist ein Gemeinbesitz, wie zum Beispiel eine Viehweide. Eine Weide, die von vielen Viehhirten genutzt wird, muss am Ende durch Übernutzung zugrunde gehen, weil kein Hirte freiwillig als Einziger auf den Weidegrund verzichtet. Die Summe individueller Rationalität ergibt nicht kollektive Rationalität, sondern kollektiven Kollaps.
Das Gefangenen-Dilemma, der heiße Draht - und was das für die Klimapolitik bedeutet
Als Politikwissenschaftler bekommt man diesen Konflikt schon im ersten Semester eingebläut, und zwar in Gestalt des klassischen Gefangenendilemmas, das erstmals in den 1950ern von Beratern der berüchtigten RAND Corporation für die US-Verteidigungspolitik im Kalten Krieg erdacht wurde.
Dieses Szenario geht so: Die Polizei fasst zwei Bankräuber, hat jedoch keine Beweise für die Tat. Deshalb verhört sie beide Gefangene einzeln, damit sie sich nicht absprechen können. Streiten beide die Tat ab und halten still, bekommen sie nur eine geringe Strafe von einem Jahr wegen illegalen Waffenbesitzes. Gestehen beide, drohen ihnen jeweils fünf Jahre Haft. Legt aber nur einer ein Geständnis ab und belastet den anderen, geht er als Kronzeuge straffrei aus, während der nicht geständige Täter zehn Jahre hinter Gittern landet.
Das Gefangenen-Dilemma

Das optimale Ergebnis wäre, wenn beide kooperieren und schweigen. Dann kommen sie mit jeweils nur einem Jahr Haft davon. Das Dilemma: Sie können sich nicht absprechen. Selbst wenn sie vorher einen Eid geschworen haben, sich nicht gegenseitig zu verraten, können sie nicht sicher wissen, ob sich der Andere nicht doch zu einem Geständnis hinreißen lässt, um der Strafe zu entgehen. Das Ergebnis hängt also nicht nur vom eigenen Handeln ab, sondern vor allem vom Verhalten des Anderen.
Was hat das nun mit der amerikanischen Verteidigungspolitik zu tun? Im Kalten Krieg standen sich der Westen unter Führung der USA und der sowjetische Ostblock feindlich gegenüber. Das optimale Handeln wäre, wenn beide Supermächte abrüsten oder zumindest keine kriegerischen Akte vom Zaun brechen. Da sie aber den Verdacht nie ausschließen können, dass der Andere insgeheim feindlich handelt, müssen sie selbst aufrüsten und zuschlagen, bevor es der Andere tut. Selbst wenn beide Bündnisse einen Vertrag zur Rüstungskontrolle abschließen, ist es für sie doch immer besser, heimlich aufzurüsten, um im Kriegsfall überlegen zu sein. Wenn sich keiner an den Vertrag hält, ist das zwar für alle am schlechtesten, aus Sicht der Einzelnen aber trotzdem klüger.
Wer einmal den Film Thirteen Days über die Kubakrise 1962 gesehen hat, der bekommt eine leise Ahnung davon, wie haarscharf die Welt an einem nuklearen Krieg vorbeigeschrammt ist. Die USA deckten damals auf, dass die Sowjetunion mitten dabei war, Atomraketen auf Kuba zu stationieren. Nukleare Sprengköpfe in ihrem Hinterhof konnten die Amerikaner keinesfalls dulden. Die Sowjets wiederum wollten die strategische Überlegenheit, so nah ans feindliche Territorium vorgerückt zu sein, nicht aufgeben. Um ein Haar hätte individuelle Rationalität zu einem kollektiven Desaster geführt. Nur das diplomatische Geschick der Regierung unter John F. Kennedy konnte verhindern, dass der Konflikt eskalierte.
Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar: Die USA und die Sowjetunion besaßen damals keine Verbindung, um im Ernstfall miteinander kommunizieren zu können – wie die Bankräuber in der Zelle, die getrennt verhört werden. Verhandlungen liefen über die Botschafter und über Fernschreiber, wo Nachrichten verschlüsselt, weitergegeben, entschlüsselt, weitergegeben, nochmals verschlüsselt, weitergegeben, entschlüsselt und übersetzt wurden, sodass es schon mal einen Tag oder länger dauern konnte, bis eine Nachricht ankam – mit viel Platz für Missverständnisse und Irrtümer.
Erst nach der Kubakrise installierte man das legendäre Rote Telefon im Weißen Haus: eine direkte Verbindung zwischen Moskau und Washington, mit der man sofort, direkt und jederzeit über eine sichere Leitung kommunizieren konnte. (In Wahrheit war das Rote Telefon allerdings gar kein Telefon, sondern ein Fernschreiber, also so etwas wie eine an ein Überseekabel angeschlossene Schreibmaschine für Telegramme.)
Warum die internationale Klimapolitik auf der Stelle tritt
Das Gefangenendilemma erklärt auch, warum die internationalen Klimaverhandlungen seit dreißig Jahren auf der Stelle treten.
Die Atmosphäre ist ein öffentliches Gut: Jeder profitiert von einem intakten Weltklima, egal ob er es schützt oder zerstört. Es ist praktisch unmöglich, einzelne Staaten von der Nutzung der Atmosphäre auszuschließen. Jeder Staat stellt sich daher individuell am besten, wenn er möglichst wenig zum Klimaschutz beiträgt: „Deutschland hat nur zwei Prozent der globalen Emissionen, da ist es sowieso völlig egal, was wir tun! Und wenn wir etwas tun, dann wandert die Industrie ab! Daher warten wir lieber, bis alle anderen handeln, sonst schaden wir uns selbst!“
Man hofft dann, dass die anderen Länder schon genügend tun werden, um das Klima stabil zu halten. Und wenn auch die anderen Regierungen nicht vorankommen, ist das die beste Ausrede, selbst ebenfalls untätig zu bleiben: „Schaut her, die anderen machen noch weniger als wir! Zum Glück waren wir nicht so dumm, mit gutem Beispiel voranzugehen!“
Wenn aber alle Staaten so denken, kommt es niemals zu einem Fortschritt. Jeder versucht dann auf Kosten der anderen trittbrettzufahren. Das ist zwar individuell rational – man will ja nicht der Dumme sein, der sich als Einziger an die Klimapflichten hält –, aber führt kollektiv zu Stillstand.
Jemand nannte das einmal „Diplomaten-Mikado“: Wer sich zuerst bewegt, verliert.
Das Gefangenendilemma im Klimaschutz kann man nur lösen, wenn sich alle – oder zumindest möglichst viele – Staaten glaubhaft verpflichten, ihren nationalen Treibhausgasausstoß zu senken. Doch das ist gar nicht mal so einfach.
Dieses strukturelle Problem sollen die UN-Klimakonferenzen lösen helfen. Bei aller Kritik, auch von mir: Sie sind das einzige wirklich globale Forum, das wir haben. Wenn ein globales Problem eine globale Lösung braucht, dann brauchen wir auch die UN-Klimakonferenzen. Sie sind da rote Telefon der Weltgemeinschaft.
Die Logik kollektiven Handelns löst man aber auch anders: indem man selbst vorangeht. Wer nicht nur verhandelt, sondern gleichzeitig für alle sichtbar handelt, der sendet das glaubwürdige Signal aus: Wir leisten unseren Beitrag. Das macht es anderen einfacher, dies ebenfalls zu tun.
Die deutsche Energiewende ist das beste Beispiel. China ist Deutschland gefolgt und krempelt nun die Weltmärkte für erneuerbare Energien um. Das macht es allen Nationen leichter, selbst mehr für Klimaschutz zu tun.
Auch ohne UN-Beschluss können wir erneuerbare Energien ausbauen und die Kohle beenden. Mit innovativen Unternehmen wie Enpal und mit bewährten Politikinstrumenten wie Erneuerbare-Energien-Gesetz und CO2-Bepreisung steht alles zur Verfügung, um Klimaschutz voranzubringen.
Statt global aufschieben, um national nicht handeln zu müssen, ist ein neues Credo gefragt:
Global verhandeln. National handeln.
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