top of page
AutorenbildWolfgang Gründinger

Die Marshmallow-Lüge: Warum harte Arbeit nicht reich macht - und was wirklich zählt

Aktualisiert: 18. Dez. 2021


Schon mal vom Stanford Marshmallow Experiment gehört? Ein Wissenschaftler gab 1972 einem Kind einen Marshmallow, und versprach ihm einen zweiten, wenn es den Marshmallow für 15 Minuten nicht isst. Und fand heraus: Kinder, die genug Willenskraft besaßen, nur eine kurze Zeit zu warten, waren später im Laufe ihres Lebens besser bei Prüfungsergebnissen, Bildungsgraden, Body-Mass-Index und weiteren Indikatoren. Man muss nur genug Willen haben, dann klappt es auch mit dem Erfolg im Leben! Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!


Das Stanford Marshmallow Experiment wurde weltberühmt. Das Problem nur: Es ist falsch. Denn man hatte vergessen, eine wichtige Variable zu checken: den sozialen Hintergrund der Eltern. Und siehe da: Kinder aus materiell wohlversorgtem Elternhaus konnten auf den Marshmallow warten, Kinder mit armen Eltern nicht.


Die Erklärung ist einfach: Arme Menschen haben gelernt, mit Knappheit zu leben – und sie nehmen lieber das, was da ist, sofort – bevor es zu spät ist. Sie müssen eine von Knappheit geprägte Gegenwart meistern, und was sie tun, muss sich daher unmittelbar lohnen.


Der Harvard-Ökonom Sendhil Mullainathan und der Princeton-Psychologe Eldar Shafir beschreiben in ihrem Buch Scarcity: Why Having Too Little Means So Much detailliert, warum Armut Menschen dazu treibt, kurzfristig zu denken: Denn in ihrer Realität wartet keine Belohnung. Für arme Menschen gibt es einfach keinen zweiten Marshmallow.


Trotzdem blickt die Mittelschicht moralisch überheblich auf die Armen hinab: Die müssten sich ja nur mehr anstrengen! Dabei ist Armut kein Mangel an Charakter, sondern ein Mangel an Geld.

Poverty isn’t a lack of character. It’s a lack of Cash. – Rutger Bregman

Der Glaube, dass Leistung sich lohnt, ist so verbreitet wie falsch. Reiche tun so, als hätten sie mehr geleistet. Haben sie aber nicht!


Reiche Menschen glauben sogar dann, dass sie ihren Erfolg ihrer Leistung zu verdanken haben, wenn sie zwangsläufig wissen müssten, dass dies nicht stimmt! Das zeigt eine Studie der University of California in Berkeley: Die Forscher ließen Probanden Monopoly spielen, aber unter unterschiedlichen Bedingungen – die einen erhielten ein doppelt so hohes Startkapital wie die anderen, außerdem ein doppelt so hohes Gehalt, wenn sie über “Los” gingen, und würfelten mit zwei Würfeln statt mit einem. Sie mussten also gewinnen, weil das Spiel offensichtlich manipuliert war. Trotzdem erklärten sie nach Ende des Spiels, dass sie gewonnen hätten, weil sie besser gespielt hätten


Die reichen Spieler wurden außerdem im Laufe des Spiels unsozialer. Sie bedienten sich deutlich häufiger an bereitgestellten Brezeln (entnahmen also mehr von gemeinsamen Ressourcen für sich selbst), machten sich über die Armut der anderen lustig, und demonstrierten ihre Überlegenheit durch lauten Tonfall, Jubeln und das demonstrative Zählen ihres Geldes. Geld macht unmoralisch. 


Noch schlimmer: Reiche Menschen glauben sogar, das Gesetz brechen zu dürfen. Das zeigt eine weitere Studie der UC Berkeley. Die Forscher filmten einen Zebrastreifen und registrierten, welche Autos anhielten, um einem Fußgänger den Übertritt zu gewähren – wie es das Gesetz vorschreibt. Das Ergebnis: Je teurer das Auto, desto öfter brach der Fahrer das Gesetz.


Insgesamt führten die Psychologen in Berkeley sieben solcher Experimente durch, mit unterschiedlichen Versuchspersonen und unterschiedlichen Methodiken. In allen Experimenten zeigte sich: Reiche sind unethischer als Arme.


"Menschen verhalten sich oft unethisch, weil sie Anspruchsdenken haben und sich dazu berechtigt fühlen", kommentiert der Evolutionspsychologe Prof. Vladas Griskevicius von der Carlson School of Management an der University of Minnesota.


Reiche spenden weniger von ihrem Einkommen als Arme – obwohl sie sich deutlich mehr leisten könnten. Das zeigen u.a. Auswertungen von Steuerbescheiden, wonach Geringverdiener einen deutlich höheren Prozentsatz spenden als Besserverdiener.


Arme helfen. Reiche fragen sich, warum ausgerechnet sie helfen sollen. Als die Zeit einmal eine Journalistin und einen Journalisten zur Vorweihnachtszeit als obdachloses Paar verkleidete, auf der Suche nach Obdach (ähnlich wie bei Maria und Josef auf Herbergssuche), zeigten die Wohlhabenden im reichsten Ort Deutschlands ihnen die kalte Schulter. Sogar bei einem Wohltätigkeitskonzert (!) flogen sie raus. „Wenn jemand half, dann die Helfer der Reichen. Ein Gärtner, eine Bäckerin, eine Hotelangestellte.“


Als das obdachlose Paar aber bei „kleinen Leuten“ in Neukölln um Hilfe bat, bekamen sie diese auch: Geld, Lebensmittel, ein Platz zum Schlafen, einen Job. Arme sind mitfühlend, sie helfen. Die Reichen gehen lieber auf Wohltätigkeitskonzerte und prosten sich gegenseitig zu.


Wer das alles einmal sehr eindringlich vor Augen geführt bekommen will, schaue sich dieses ebenso faszinierende wie verstörende Video von Unicef an. Es zeigt, wie lästig uns arme Kinder sind, während wir uns um reiche Kinder gerne kümmern.




Die Reichen schirmen sich ab


Die Reichen selektieren ihresgleichen. Sie stellen ein, wer ihnen gleicht. Das ergeben Untersuchungen der Lebensläufe von 6.500 promovierten Juristen, Wirtschaftswissenschaftlern und Ingenieuren in Deutschland. Bei den 400 größten deutschen Unternehmen sind die Karrierechancen für Kinder aus dem gehobenen Bürgertum doppelt so hoch, für den des Großbürgertums sogar dreimal so hoch wie für alle Promovierten insgesamt. Mit Leistungsunterschieden ist dies nicht zu erklären.

„Wenn es eine Verbindung zwischen Reichtum und harter Arbeit gäbe, dann gäbe es eine Menge sehr reicher Holzfäller.” – Will Rogers 

Immer wieder zeigen auch Studien z.B. des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) oder des Peterson Institut for International Economics: Der berufliche Erfolg der Kinder hängt in Deutschland stark von Einkommen und Vermögen der Eltern ab. Wer arme Eltern hat, hat statistisch kaum eine Chance, nach oben aufzusteigen. Die soziale Mobilität in Deutschland ist gering und hat sogar in den letzten Jahren abgenommen: Reiche bleiben reich, Arme bleiben Arm. Der Aufstieg ist zäh und dauert lang.


Es beginnt schon bei der Bildung: Laut Hochschul-Bildungs-Report von Stiftungsverband und McKinsey studieren nur 21 von 100 Arbeiterkindern (im Vergleich: 74 von 100 Akademikerkindern). Nur 8 absolvieren einen Master (Akademikerkinder: 45). Und nur 1 promoviert (Akademikerkinder: 10). Sind Akademikerkinder zehnmal schlauer als Arbeiterkinder? Wohl kaum! Sie haben nur die besseren Startchancen.



Lauren Rivera, Managementprofessorin an der US-Eliteschmiede Kellogg School of Management, fand in umfangreichen Studien heraus: Investmentbanken, Anwaltskanzleien oder Beratungsfirmen haben bei ihrer Bewerberauswahl eine extreme Präferenz für Kandidaten mit traditionellen Oberschichts-Hobbys wie Segeln, Polo oder klassische Musik – bei ansonsten identischen universitären und beruflichen Qualifikationen.


Im Klartext: Die Top-Arbeitgeber suchen sich ihre Bewerber nicht primär nach Kompetenz aus, sondern vor allem danach, ob sie zur elitären Unternehmenskultur passen. Ob jemand „dazu passt“, nannte über die Hälfte der Topmanager in einer Befragung sogar ausdrücklich als wichtigstes Einstellungskriterium – wichtiger als analytisches Denken oder Kommunikationsfähigkeit. Im Klartext: Golfer stellen Golfer ein. Alles andere ist sekundär.


Übrigens: Auch Startup-Gründer haben kein „Risiko-Gen“. Sondern sie haben einfach materiell abgesicherte Elternhäuser, mit allem, was dazugehört: Habitus, Netzwerke, finanzielle Absicherung, Zugang zu Geschäftswissen. Die meisten Startup-Gründer kommen aus wohlhabenden Familien und sind nicht risikofreudiger als andere – das beweisen Gemeinschaftsstudien der University of California in Berkeley und der London School of Economics sowie der Princeton University und der Stanford University. Und eine Studie der Unternehmensberatung EY benennt den Zugang zu Eigenkapital (und seien es "nur" wenige Zehntausend Dollar) als wichtigste Hürde für Gründungen.


“If one does not have (...) a family with money, the chances of becoming an entrepreneur drop quite a bit,” sagt Ross Levine von der University of California, Berkeley. "Nurture not nature does appear to be more important in shaping the entrepreneurial mindset", schreibt EY.


Für jemanden, der aus der Unterschicht* kommt, sind die Netzwerke der Wohlhabenden schwer erreichbar. Man bleibt unter sich. Ein normaler Skiurlaub mit der Familie kostet einen Durchschnittsverdiener zwei Monatslöhne – unbezahlbar. So schotten sich die Reichen strukturell von den Armen ab. Die Unterschicht ist außen vor, kann keine Kontakte knüpfen, keine Business-Informationen austauschen. Arme Menschen haben es strukturell schwer in unserer Gesellschaft.


Kinder aus der Unterschicht können prinzipiell zwar aufsteigen. Aber Talent, Fleiß, Leistungs- und Lernbereitschaft reichen nicht aus. Sondern, so hat Deutschlands wohl angesehenster Ungleichheitsforscher Prof. Aladin El-Mafaalani von der Universität Osnabrück nachgewiesen, müssen vielmehr „enorme Anpassungsleistungen vollzogen werden, die divergierende soziale Erfahrungen und Logiken vereinigen und gleichzeitig Distanzen ermöglichen und Trennungskompetenz erfordern.“ Das heißt: Kinder aus der Unterschicht müssen mit ihrer Herkunft radikal brechen, um aufsteigen zu können. Und noch dazu kommt: Sie brauchen darüber hinaus viele glückliche Zufälle.






Manche behaupten: "Aber ich (oder irgendjemand anders) habe es doch auch geschafft, obwohl ich keine reichen Eltern hatte! Dann können das auch andere!" Ein solches "induktives" Schließen vom Einzelfall auf die Gesamtheit ist wissenschaftlich-methodisch nicht erlaubt, aus plausiblen Gründen: "Obama hat es auch nach oben geschafft? Dann kann es ja gar nicht sein, dass es Rassismus gibt!" "Merkel ist/war doch Kanzlerin! Es gibt keine sexistische Diskriminierung!" Von einer einzelnen Story auf die Allgemeinheit zu schließen - das funktioniert nicht.


Dazu kommt der sogenannte Survivorship Bias, eine kognitive Verzerrung: Wir überschätzen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs dramatisch, da erfolgreiche Personen oder Zustände stärker sichtbar sind, als nicht erfolgreiche. Einer hat es nach oben geschafft? Stimmt. Aber zehntausende andere eben nicht. Und das ist strukturell.


Eine einzelne Erfolgsgeschichte ("ICH habe es doch auch geschafft!") erlaubt allerdings demjenigen, der es geschafft hat, auf andere herabzublicken: "Andere sind eben nicht so gut wie ich. Für den Erfolg ist eben jeder selbst verantwortlich!" Diese Abgrenzung nach unten ist leider auch ein antrainierter Klassismus: Man tritt umso heftiger nach unten, um sich selbst besser zu fühlen. Gesellschaftliche Probleme werden so als individuelles Versagen stigmatisiert.


Es kann auch sein, dass die scheinbaren sozialen Aufsteiger in Wahrheit gar keine Aufsteiger sind, auch wenn sie sich selbst so darstellen. Denn: Reiche glauben oft, dass sie gar nicht reich sind. Weil sie nicht wissen, wie Armut wirklich aussieht, und weil sie Menschen kennen, die noch reicher sind. Die Fakten: Ab einem Netto-Einkommen von 1946 Euro (2017) gehört man als Single bereits zur reichen Einkommens-Hälfte der Bevölkerung. Und bei einem Vermögen über 26.000 Euro kann man sich zur oberen Vermögens-Hälfte zählen. Viele Menschen in Deutschland verdienen und besitzen so extrem wenig, dass man sehr schnell zur reichen Hälfte der Gesellschaft gehört. Wer in der Mittelschicht aufwächst, weiß das nicht - oder will es nicht wissen.


Die "feinen Unterschiede" zeigen sich bereits im Kindesalter, wie der Soziologe Filipo Oncini in einer Untersuchung an einer Schulkantine herausfand. Kinder aus der Mittelschicht kommen mit vielfältigen kulinarischen Angeboten in Berührung, kennen sogar manch exotische Nahrungsmittel und Gericht wie Paella oder Schnecken, und kennen das Restaurantangebot während der Ferien. Kinder mit armen Eltern wissen nur von Pizzerien und Restaurants in unmittelbarer Nähe der Wohnung - und dass ein Besuch dort zu teuer ist. Ein weiterer Unterschied bestand in den Tischmanieren: "Kinder aus Angestellten- und Akademikerhaushalten stellten in Gegenwart eines Erwachsenen ihr Wissen über Tischmanieren demonstrativ zur Schau, inklusive der Zurechtweisung ihrer Tischnachbarn. Rücksicht auf den Soziologen nahmen sie ebenfalls bei der Beurteilung: Als dieser das Essen lobte, erläuterten sie detailliert die Schwächen und führten die abweichende Meinung des Erwachsenen mit wohlwollendem Verständnis darauf zurück, dass er eben hungrig gewesen sei."


Arme Menschen starten von einem anderen Punkt ins Leben. Urlaubsreisen, Skifahren, Musikschule, Reiten, Segeln, Taxifahrten, Hotels, Theater, Bücher – an all das ist nicht zu denken. Zu Weihnachten gibt es Duschgel als Geschenk – das gute für drei Euro, nicht das normale für ein Euro. Friseurtermine? Übernimmt die Nachbarin. Restaurants? Vielleicht einmal im Jahr, dann wird sich aber vorher richtig schick gemacht. Schmeckt der Wein? Egal, denn man trinkt keinen Wein, sondern Bier. Und wenn man doch Wein trinkt, kennt man die Unterschiede sowieso nicht. Und welches Besteck ist nochmal für was? Die Lebenswelt der Unterschicht ist eine andere. 



Kinder aus der Unterschicht beginnen ihr Leben, als müssten sie bei einer Besteigung des Mount Everest am Fuße des Berges starten, und zwar ohne Ausrüstung.

Mittelschichtskinder starten im High Camp, mit Outdoor-Equipment, Sauerstoffflaschen, Führern und Trägern.


Dann kommen die Mittelschichtskinder auf dem Gipfel an, triumphieren über ihre Leistung - und behaupten: Jeder hatte doch die gleiche Chance! Der Berg ist doch schließlich für alle gleich hoch!


Der Weg zum Gipfel ist zwar für beide schwer. Aber die Mittelschichtskinder haben den besseren Start.



„Das Problem sind nicht reiche Leute an sich. Das Problem sind reiche Leute, die sich ihrer Privilegien nicht bewusst sind und gleichzeitig über die Finanzen anderer, ärmerer Leute entscheiden wollen. Es kann nicht gut gehen. Leute, die viel Geld verdienen, verlieren leider manchmal das Feingefühl dafür, wie wenig Geld andere haben.“ – Margarete Stokowski

Unser Bildungssystem macht es armen Menschen schwer


  • Lehrkräfte neigen bei Kindern aus ärmeren Elternhäusern dazu, eine Empfehlung für Real- oder Hauptschule abzugeben – auch wenn die Noten für das Gymnasium sprechen.

  • Kinder aus reicheren Elternhäusern verbringen deutlich öfter Urlaube, Sprachreisen, Schuljahre oder Semester im Ausland. Dort lernen sie Fremdsprachen und knüpfen Kontakte – unabdingbar für den beruflichen Aufstieg.

  • 96 Prozent der Lehrkräfte sind laut Allensbach-Umfrage der Ansicht, dass das Elternhaus mit darüber bestimmt, wie erfolgreich Schüler sind. 83 Prozent halten diesen Einfluss sogar für “groß” oder “sehr groß”. 

  • Stipendien der Begabtenförderungswerke kommen stark den ohnehin Privilegierten zugute - wer arm ist, bewirbt sich erst gar nicht (aus Unkenntnis oder geringem Selbstvertrauen), hat nicht die nötigen Punkte im Lebenslauf (Auslandspraktika, Auslandssemester, ehrenamtliches Engagement - das alles muss man sich erst leisten können!) und nicht den nötigen Habitus (Wie behaupte ich mich im Bewerbungsgespräch? Wie formuliere ich Anschreiben?)

Unterschichtskinder brauchen länger, um voranzukommen. Sie müssen erst mühsam, mit viel Kraft und Energie, das kompensieren, was ihr Elternhaus nicht geleistet hat – was aber in Mittelschichtsfamilien normal ist. Die Armen müssen extrem hart arbeiten und viel Glück haben, damit sie irgendwann vielleicht da ankommen, wo die Reichen schon zehn Jahre vorher mühelos gestartet sind.


Auch unser Steuersystem sorgt dafür, dass die Reichen noch reicher werden


  • Der Steuersatz auf hohe Einkommen wurde im Laufe der Jahre von 53% auf 42% gesenkt.

  • Die Mehrwertsteuer, die vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen belastet, wurde dagegen von 15% auf 19% erhöht.

  • Die Erbschaftsteuer ist mickrig. Pro Kind gibt es einen Freibetrag von 400.000 Euro, der bei kluger “Steueroptimierung” auf über eine Million ausgedehnt werden kann. Zusätzlich ist auch das Eigenheim steuerfrei – egal wie viel es wert ist. Der Steuersatz auf das übrige Vermögen bewegt sich bei Kindern zwischen 7% und 30% – und auch da gibt es noch weitere Ausnahmen. Das ist besonders ungerecht, denn zwei Drittel des Vermögens werden nicht etwa erarbeitet, sondern durch Erbschaften erworben. Nennenswerte Erwerbe finden dabei vor allem im reichsten Fünftel der Bevölkerung statt; für die anderen sind Erbschaften nahezu irrelevant. (Zugleich gilt: Wenn jemand Sozialhilfe bezieht und etwas erbt, dann zieht der Staat 100% des Erbes ein. Armen wird das Erbe sofort weggenommen. Die Reichen dürfen das Erbe behalten. Gerechtigkeit, anyone!?)

  • Die Vermögensteuer ist seit 1996 ausgesetzt.

  • Einnahmen aus Kapital (wie Dividenden aus Aktien) werden seit 2009 nur mit maximal 25% (sogenannte Abgeltungssteuer) besteuert – anders als Arbeitseinkommen. Wer also Vermögen hat und so leistungsloses Einkommen bezieht, wird im Vergleich zur Einkommensteuer besser gestellt!


Am Ende führt das dazu: Wer wenig hat, wird relativ stärker belastet – so auch das jüngste Ergebnis einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Genauer: Die effektive Grenzbelastung bei Steuern und Abgaben steigt nicht mit dem Einkommen an! Das heißt: Mehrarbeit und Lohnzuwächse bei höheren Einkommen werden weniger belastet als bei niedrigen.


Um soziale Herkunft kümmert sich niemand


Diversity ist ein riesiges Thema. Außer: soziale Herkunft. Der German Diversity Report 2021 zeigt: Unternehmen fördern Frauen am stärksten. Auch um Ältere kümmert man sich. Schwieriger wird es dann schon, wenn man nichtdeutscher Herkunft ist. Menschen mit Behinderung genießen nur noch sehr wenig Aufmerksamkeit, ebenso Schwule, Lesben und andere LGBT+. Soziale Herkunft aber liegt bei null.


Unternehmen fördern zwar Frauen aus der wohlumsorgten Mittelschicht. Aber wer arm ist, bleibt außen vor. Das ist purer Klassismus. Feminismus muss daher viel stärker intersektional gedacht werden.




Was tun?


Wir brauchen ein umfassendes Paket für mehr Chancengleichheit in Deutschland, damit sich Leistung endlich auch für die Unterschicht lohnt. Ich finde, dazu gehört mindestens:

  1. Erhalt und Ausbau der Daseinsvorsorge: z.B. kostenfreier Nahverkehr für ALG-II-Empfänger, Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs auch auf dem Land (z.B. durch Sammeltaxis), Erhalt öffentlicher Bäder und Bibliotheken usw.

  2. deutliche Erhöhung der Erbschaftsteuer

  3. Reduzierung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Güter des Grundbedarfs

  4. Mindestlohn von 12 Euro

  5. Erhöhung beim Spitzensteuersatz, dafür Reduzierung beim Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer (dann gern auch Abschaffung des Soli)

  6. Vereinfachung des Steuersystems, damit nicht nur diejenigen profitieren, die möglichst geschickt “optimieren” können

  7. Sanktionsfreiheit bei Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit

  8. massive Vereinfachung des Bildungs- und Teilhabepakets für Kinder aus armen Familien

  9. Abschmelzung der Kinderfreibeträge, damit Kinder aus reichen Familien dem Staat endlich nur noch so viel wert sind wie Kinder aus armen Familien

  10. Abschaffung der Steuerfreibeträge für den Besuch von Privatschulen

  11. Steuerfinanzierung der Begabtenförderwerke nur noch für Stipendien für das untere Drittel der Bevölkerung

  12. Kostenfreie und hochqualitative Bildung für alle inklusive hochwertigem Mittagessen – Luxuskitas und Eliteschulen für alle!

  13. Unconscious-Bias-Trainings für alle Lehrkräfte, damit diese lernen, arme Kinder möglichst nicht mehr zu benachteiligen

  14. Stärkung von Life Skills wie Wirtschaftskenntnissen, Finanzplanung, Geldanlage, produktives Arbeiten, Netzwerken, Achtsamkeit usw. an den Schulen, Berufsschulen und Hochschulen, damit auch Unterschichtskinder einfachen Zugang zu diesem Wissen haben

  15. Förderung von Initiativen wie Arbeiterkind.de und Netzwerk Chancen, die Kindern aus der Unterschicht beim Aufstieg helfen

Was denkst du dazu? Schreib mir deine Vorschläge!



* zum Begriff "Unterschicht": Das ist die soziale Schicht unter der Mittelschicht, die wiederum unter der Oberschicht liegt. Ich verwende den Begriff synonym zu "arme Menschen" oder "Menschen mit (sehr) wenig Geld". Wer es gern präziser möchte: approximativ etwa das untere Quintil der Haushalte, aber darüber lasse ich gern mit mir streiten. Sicherlich kommen bei der Definition noch weitere Faktoren wie das Bildungsniveau hinzu, aber auch dieses ist ja wiederum abhängig vom ökonomischen Status. Um die Realität zu verschleiern - nämlich, dass es arme Menschen unter der Mittelschicht gibt (sprich: die Unterschicht), sprechen manche stattdessen von "sozial Schwachen". Ich lehne diesen Begriff ab: Denn arme Menschen sind nicht sozial schwach! Nicht euphemistisch die Tatsachen verschleiern, sondern klar sagen, was ist - die Dinge beim Namen nennen. Darum geht es.


14.424 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


Commenting has been turned off.
bottom of page