Bei Energiepolitik denken wir normalerweise an die großen Atom- und Kohlekonzerne, die mit ihrer geballten Lobbymacht den Klimaschutz sabotieren: Sie haben Milliarden an der Hand und eng gewebte Netzwerke in die Politik; gegen sie haben Sonne und Wind keine Chance. Wie konnte es dennoch zur Energiewende kommen?
In meiner Doktorarbeit „What drives the Energiewende? – New German Politics and the Influence of Interest Groups“ habe ich an der Humboldt-Universität zu Berlin drei Jahre lang genau diese Frage erforscht. Dabei habe ich mir vier Politikprojekte herausgegriffen und über 15 Jahre lang (1998-2013) genau nachgezeichnet: Emissionshandel, Atomausstieg, Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und Carbon Capture and Storage (CCS). Ich las stapelweise Dokumente und Stellungnahmen und sprach mit Politikern, Ministerialbeamten, Staatssekretären, Industrielobbyisten und Umweltaktivisten. Am Ende stand die umfangreichste politikwissenschaftliche Untersuchung zur deutschen Energiepolitik. Das Ergebnis lautet: Die deutsche Politik funktioniert heute nach anderen Logiken als noch vor zwanzig Jahren – und genau das hat die Energiewende möglich gemacht und bis heute durchhalten lassen.
Die drei Hürden des Politikwechsels
Aber der Reihe nach: Die wissenschaftliche Literatur glaubt in der Regel, dass sich ressourcenstarke, etablierte Interessengruppen – sprich: die fossil-nuklearen Konzerne und ihre Helfer in der Industrie – durchsetzen. Sie haben eine hohe Konfliktfähigkeit auf ihrer Seite, d.h., sie können der Politik mit dem Entzug von Ressourcen drohen, wie beispielsweise dem Abbau von Arbeitsplätzen.
Eine Wirtschaftsbranche, die noch gar nicht existiert – wie etwa die Erneuerbaren-Industrie, die um das Jahr 2000 ein Nischendasein führte – hat diese Konfliktfähigkeit nicht. Außerdem haben die Konzerne die Organisationsfähigkeit auf ihrer Seite, d.h., sie können sich dank ihrer Finanzkraft und ihrer etablierten Strukturen schnell und gut organisieren, wenn die Politik ihre Interessen bedroht. Klimaschützer taten sich da normalerweise schwerer: Die Risiken sind weit weg in der Zukunft, und keiner weiß, wann und ob er wirklich betroffen sein wird. Daher lohnt es sich für den Einzelnen kaum, sich zu organisieren. In der Wissenschaft spricht man von „weichen“ Interessen.
Dazu kommt zweitens: Die Verfechter des Politikwechsels haben es immer schwerer als die Verteidiger des Status Quo. Denn: Wer ein Gesetz ändern will, muss alle überzeugen: den Koalitionspartner, die Regierungsfraktionen im Bundestag, die Mehrheit im Bundesrat, und das Bundesverfassungsgericht. Das sind mindestens vier so genannte „Vetospieler“, deren Zustimmung man für einen Wandel braucht. Für die Verteidiger des Status Quo reicht es dagegen, wenn sie nur einen davon überzeugen, und schon ist der Politikwechsel gescheitert. Auch das macht es unwahrscheinlich, dass es zu einer umfassenden Energiewende kommt.
Drittens und letztens kommt die Pfadabhängigkeit dazu: Das alte fossil-atomare Energiesystem hat funktioniert, es hat Milliarden an Investitionen und Steuergeldern gekostet, und es gab eigentlich keinen dringenden Grund, warum man es verlassen sollte. Sicherlich barg es bedrohliche Risiken für das Weltklima, ganz abgesehen von anderen Sorgen etwa der nuklearen Anlagensicherheit, aber das waren alles potenzielle Risiken in der Zukunft, während man heute an Versorgungssicherheit, Energiepreise, Arbeitsplätze und vielerlei mehr denken musste. Wasser, Wind und Sonne deckten im Jahr 2000 nur ein paar Prozent der Stromversorgung ab, und Photovoltaik war irrsinnig teuer und kaum mehr als eine technische Spielerei. Konnte man wirklich auf diese Formen der Energieversorgung für eine Industrienation setzen? Damals dachten viele: wohl kaum. Ein einmal eingeschlagener Energiepfad wird daher nicht mehr verlassen, es sei denn als Schockreaktion auf Unglücke oder andere besondere Ereignisse. Auch diese Logik der Pfadabhängigkeit lässt die Energiewende sehr unwahrscheinlich wirken, denn als sich im Jahr 2011 Fukushima ereignete, war sie ja schon längst im Gange. Fukushima beschleunigte und besiegelte die Energiewende, war aber nicht der Auslöser.
Trotz all dieser Hemmnisse erzählt die deutsche Energiepolitik seit 1998 eine beeindruckende Story: Die großen Energiekonzerne, mit all ihrer Lobbymacht, konnten Politiker nicht daran hindern, einen umfassenden Wandel der Energiepolitik zu vollziehen: Atomkraftwerke wurden abgeschaltet, Erneuerbare Energien gefördert, der Neubau von Kohlekraftwerken behindert und der Emissionshandel eingeführt. Dies alles geschah gegen den erklärten Willen und gegen den eingefleischten Widerstand der fossilen Energiewirtschaft und trotz der strukturellen Hemmnisse des politischen Systems und ungeachtet aller Pfadabhängigkeiten.
Die fünf neuen Logiken der Energepolitik
Eingeleitet wurde die Energiewende durch die rot-grüne Bundesregierung nach ihrem Amtsantritt 1998. Erstmals in der Geschichte war die grüne Partei an der Regierung beteiligt, und das schaffte ein Gelegenheitsfenster für eine Neuausrichtung der Energiepolitik. Aber dazu kam, dass in den 1980ern und vor allem 1990ern auch andere Rahmenbedingungen verschoben haben, die diesen Prozess begünstigten. Man spricht dabei von der alten „Bonner Republik“, die anderen Handlungslogiken gehorchte als die neue „Berliner Republik“ seit dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin. Mit Blick auf die Energiewende sind das fünf Faktoren:
Die Ära des fossil-nuklearen Korporatismus ist zu Ende. In der Bonner Republik saß ein Bund alter Männer in den Weinstuben und machte Politik unter sich aus. Klima-Aktivisten fehlten am Tisch. Sie hatten keinen Zugang und konnten daher nicht mitreden. Mit dem Entstehen der zivilgesellschaftlichen Bewegungen und einer neuen, pluralistischen Vielfalt an Akteuren, wie NGOs, Think Tanks und Erneuerbare-Energien-Unternehmen, wurde die Landschaft der Interessengruppen bunter und breiter, und auf einmal waren die alten Konzerne nicht mehr der privilegierte Verhandlungspartner der Politik, sondern nur ein Akteur unter vielen, der genau wie alle anderen um sein Gehör ringen musste.
Die neue wichtigste Ressource heißt Vertrauen. Es ist nach wie vor wichtig für die Durchsetzungsfähigkeit einer Interessengruppe, ob sie wirtschaftliche Bedeutung hat und Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Aber die ökonomische Kraft ist weniger entscheidend für den Lobbyerfolg als Vertrauen – also die Frage, ob man von Politik und Öffentlichkeit als legitimer und verlässlicher Verhandlungspartner akzeptiert wird. Dieser Wandel rührt daher, dass es eine neue Vielfalt an Interessengruppen gibt und Energiepolitik auf die öffentliche Agenda gerückt ist. Politiker müssen daher sensibel auswählen, welche Interessengruppen sie glauben möchten und welchen nicht. Und für immer mehr Politiker waren das nicht die alten Energiekonzerne – die hatten immer wieder falsche Einschätzungen geliefert und sich in der Öffentlichkeit nicht unbedingt beliebt gemacht, sodass sich Politiker lieber zweimal überlegten, ob sie als Freunde der Atomlobby dastehen wollten. Nahezu unschlagbar wird eine Allianz aus Interessengruppen dann, wenn sie sowohl wirtschaftliche Kraft als auch Vertrauen vereint – etwa eine Koalition aus Umweltverbänden und Industrie.
Scheinbar moderate Gesetzesänderungen haben eine neue, „grüne“ Pfadabhängigkeit in Gang gesetzt, die nicht mehr zu stoppen ist. Blickt man zurück auf den Atomausstieg der Schröder-Regierung, war die Atomwende eher eine symbolisch-ideologische: lange Ausstiegszeiträume, weite Spielräume für die Kraftwerksbetreiber, keine höheren Sicherheitsstandards, keine Kernbrennstoffsteuer usw.; und auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz sollte ursprünglich nicht mehr bringen als ein paar Prozent mehr Sonne und Wind, und diese paar vernachlässigbaren Prozent schenkte man den Umweltaktivisten halt. Aber diese moderaten, scheinbar vernachlässigbaren Politikveränderungen waren der Anfang vom Ende des fossil-atomaren Energiepfades: Denn mit jedem Prozent weniger Atom und mit jedem Prozent mehr Regenerativstrom stieg die wirtschaftliche Kraft der Erneuerbaren-Energien-Branche und schwand die Kraft der fossil-atomaren Industrie. Das verschob die Kräfteverhältnisse – allmählich, aber stetig, und schließlich fundamental. Zweitens wurden Landwirte und Hausbesitzer, Metallgewerkschaften und Handwerker zu glühenden Unterstützern der Energiewende, weil sie dank der Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, dem Windrad auf dem Feld oder als Industriearbeiter in der Solarproduktion selbst und unmittelbar zu den Profiteuren der neuen Energiepolitik gehörten, die sie gegen Rückschritte verteidigten. Und drittens machten die „Vetospieler“, die vormals den fossilen Status Quo gegen Angriffe abschirmten, nun zu Bewahrern des neuen grünen Status Quo: Denn jeder Schritt, der vom neuen Pfad einen Schritt zurück machen wollte, musste jetzt Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht überzeugen. Auf diese Weise kreierten anfangs inkrementelle Politikveränderungen eine neue, grüne Pfadabhängigkeit.
Wir erleben eine Große Grüne Koalition. Die zunehmenden strukturellen Schwierigkeiten zur Koalitionsbildung seit den 1990ern, herrührend aus dem Erfolg der Grünen und dem Aufkommen der PDS/Linkspartei, setzten die Volksparteien unter Druck. Verschärft wurde der Parteiwettbewerb noch im Lichte der schwindenden Wählergunst für die FDP, sodass es für die CDU/CSU zu einem Risiko wurde, einzig auf eine schwarz-gelbe Koalition zu setzen – schließlich war es ungewiss, ob die FDP überhaupt noch im Bundestag landete. Hinzu kam, dass auch die konservative Klientel wie Bauern und Hausbesitzer zu Verfechtern der Energiewende wurden, da sie von den Ökostromtarifen für ihre Photovoltaikanlagen, Windräder oder Biomasseöfen enorm von der Energiewende profitierten. Die Volksparteien, und gerade auch die CDU/CSU, mussten sich also anpassen, um zu verhindern, dass die Grünen ihnen Wählerstimmen wegnehmen, und perspektivisch eine schwarz-grüne Koalition zu ermöglichen. Fukushima hat diesen Prozess noch verstärkt und das Gelegenheitsfenster eröffnet, den Atomkonflikt als die einzig verbliebene Barriere zwischen CDU/CSU und Grünen abzuräumen.
Die Flügelkämpfe innerhalb der Parteien sind tiefgreifender geworden als die Kämpfe zwischen den Parteien. Noch in den 1990ern konkurrierten die Parteien um unterschiedliche Entwürfe in der Energiepolitik. Heute sieht das anders aus: Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede in der Energiepolitik zwischen den Parteien, aber weit tiefgreifender sind die Unterschiede innerhalb der Parteien geworden. Ein Umweltpolitiker der CDU oder SPD hat mit einem Umweltpolitiker der Grünen mehr gemeinsame Standpunkte als mit einem Wirtschaftspolitiker der eigenen Partei – man denke nur an die Konflikte um Atomlaufzeiten oder Solartarife, die CDU-Umweltminister Röttgen mit dem Wirtschaftsflügel seiner Fraktion austrug. Eine folgenschwere Entscheidung war dabei, die Kompetenz für Erneuerbare Energien im Jahr 2002 vom Wirtschafts- in das Umweltministerium zu verschieben, das traditionell aufgeschlossener gegenüber Klimaschutz und der Erneuerbaren-Branche ist. Dadurch gewannen die Öko-Flügel der Parteien an Schlagkraft.
Heute unterstützen alle Parteien die Energiewende, wenngleich in unterschiedlichen Nuancen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht wird, trotz aller Komplikationen, die im Zuge der Umsetzung an die Oberfläche treten. Die Frage ist nur noch das „Bis wann?“ und „Wie?“, nicht mehr das „Ob“ der Energiewende.
Lobbyismus genießt einen schlechten Ruf: als intransparente Hinterzimmerpolitik, die der Selbstbedienung einer korrupten Elite dient, wo Geldkoffer und Vorteile zugeteilt werden. Dieses Bild ist allerdings ein starkes Zerrbild der Wirklichkeit. Die Geschichte der Energiewende beweist, dass Politik nicht (nur) von Konzernen oder Lobbyisten gesteuert wird. Die verlorenen Schlachten der fossil-atomaren Wirtschaft unterstreichen: Es gibt Grenzen des Lobbying.
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